“Märchen sind Erzählungen, Geschichten, meist mündlich überliefert. Im Unterschied zur Sage oder zur Legende sind sie frei erfunden. Sie haben phantastische Elemente, sie streuen dem Leser, bzw. Hörer „Feenstaub“ in die Augen. Sie befördern zugleich einen Traum, eine Weisheit oder Moral. Die Erzählung wirkt zeitlos. Dadurch wird erreicht, dass sich viele Menschen von ihr angesprochen fühlen.”
Eben aus dieser Definition ergibt sich, weshalb es so gut wie keine modernen Märchen in der industrialisierten Welt mehr gibt. Nicht etwa, weil es keinen Stoff, keine Vorlagen oder Vorbilder für moderne Märchen mehr gäbe. Auch nicht weil es keinen Bedarf am Zuhören mehr zu geben scheint. Ganz im Gegenteil. Setzt man sich mit einem Gedichtband oder einem Märchenbuch in eine abendliche, gesellige Runde, so erhält man meist ein positives Feedback. Hat der Leser eine angenehme Vorlesestimme passiert es dann, dass man mitunter mehrere Stunden in diesem Zirkel versumpft. Und man stellt fest. Solche Abende sind viel zu selten geworden. Viele Menschen verbinden mit Märchenerzählungen ihre Kindheit. Und tatsächlich: Kindern werden heute noch Märchen erzählt. Allerdings immer wieder die selben Klassiker. Im deutschsprachigen Raum wird es kaum eine Familie geben, in der nicht wenigsten die berühmtesten Grimm Märchen vorgelesen wurden, auch wenn man sich selbst meist nur an Versatzstücke daraus erinnert. Doch ob der Autor nun bekannt oder unbekannt, das Märchen berühmt oder noch niemals vernommen worden ist, es finden sich keine Erzählungen, die in jüngerer Zeit spielen. Wirft man einen Blick auf die Märchenfilme aus den letzten 40 Jahren (deutschsprachiger Raum) findet man beinahe ausschließlich vertraute Titel wieder.
Doch woran liegt das?
Ich glaube in unserer Zeit ist das größte Hindernis Märchen zu verfassen unsere technologisierte Gesellschaft. Ich stelle nicht, wie man nun von mir glauben mag, einen Menschen dar, der Technik in Gänze ablehnt. Im Gegenteil: Noch vor keinen zwei Jahren habe ich das „Web 2.0“ und die Möglichkeiten des Zwischenmenschlichen Austauschs über die digitale Kommunikation gepriesen. Ja, ich habe sogar darauf geschworen, dass mit der Verbreitung des Internets ein neues Zeitalter angebrochen sei, in dem alles vorher da gewesene neu ausprobiert werden müsse.
Doch führen wir uns den Preis unserer modernen Technik des 20. und 21.Jh. am Beispiel der Märchen vor Augen:
In einer Zeit, in der jedes Jahr eine neue technologische Errungenschaft gefeiert wird, die Presse und Medien zu Hauf über diese berichten (sie müssen sie nicht einmal preisen), fällt es unglaublich schwer eine zeitlose Erzählung zu schreiben. Im Informationszeitalter wird die Entwicklung von Technik mehr denn je mit Fortschritt gleich gesetzt. So sehr, dass er über die folgen überhaupt nicht mehr nachdenkt. Wie Günther Anders es formuliert hat: Der Mensch kann jetzt Dinge erschaffen, die seine Vorstellungskraft bei weitem überschreiten. Die seit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jh. im Vordergrund stehende Arbeitsteilung führt dazu, dass der Mensch sich für das was er schafft nicht mehr verantwortlich fühlt. Anders gibt das Beispiel des Schlossers, der eine Schraubenmutter herstellt: Er weiß nicht, ob mit seinem Werk eine Maschine zum Ackerbau hergestellt wird, oder ob die Mutter vielleicht in einer Atombombe verbaut wird. Der Mensch verliert den Überblick über die Folgen seines Handeln. Er verliert damit die Möglichkeit für sich eine Unmoral zu definieren, auch weil er, würde er sich darüber Gedanken machen, kaum eine Möglichkeit hätte auf den Produktionsprozess Einfluss zu nehmen. (Anmerkung: Das Rechtschreibprogramm meines Office, in dem ich diesen Text getippt habe kennt das Wort „Unmoral“ nicht einmal.)
Wie es mit jedem Gegensatz, bzw. Spannungsbogen sich verhält, braucht der Mensch stets zwei Enden, zwei Extreme, um sich und sein Handeln darin einordnen zu können. Wird ihm die Möglichkeit genommen für sich eine Unmoral zu definieren, wird es ihm unmöglich gemacht eine Moral für sich heraus zu bilden. Also persönliche Handlungsmaxime zu definieren. Was ihm bleibt ist zu existieren. Die Technik zu nutzen wird ihm somit leicht gemacht, da sie ja bereits existiert. Und die Welt hat sie bisher auch nicht zu Grunde gerichtet (zumindest nicht unser europäisches Habitat). Man lebt ja schließlich noch.
Die Auswirkungen der Probleme: Kinderarbeit in Minen unter gefährlichsten Lebensumständen, Arbeitsbedingungen die die Selbstmordraten unter der Belegschaft der Technologie-Zulieferer in die Höhe schnellen lassen, u.v.w. All diese Probleme sind weit von uns entfernt. Und als einzelne Menschen haben wir so wenig Einfluss auf den Produktionsprozess wie der Schraubenschlosser auf die Verwendung seiner Arbeit. Und ebenso wenig Schuldbewusstsein.
Aber was bedeutet dies nun für unsere Märchenerzählungen?
Die Zuhörer gibt es! Doch auf Grund der fehlenden Unmoral und somit Moral gibt es kaum Menschen die etwas zu sagen haben. Und wenn doch, so haben sie kein Budget und keine Filmfirma, die für sie ihre Gedanken aufbereitet. Es sei denn es lässt sich gewinnbringend Vermarkten. Ein Märchen hingegen kostet lediglich einige Blätter Papier, einen Zentimeter eines Bleistiftes und etwas Phantasie. Trotz ihrer Schulausbildung und Zugang zum weltweiten Informationssystem besitzen die Menschen noch immer nicht die Fähigkeit sich so auszudrücken, wie es ihnen beliebt. Ihnen fehlen die Worte ihre Ohnmacht für andere Greifbar zu machen. Das geht vielen Philosophen schon seit Jahrtausenden so, ganz zu Schweigen von uns, den Otto-Normal-Bürgern. So sind die mündlichen Geschichtserzählung am Kaminfeuer oder bei Kerzenschein dem abendlichen Beieinandersitzen vorm Fernseher gewichen (Seit kurzem sitzen alle vor ihren Tablet-Pc’s, also jeder noch isolierter). Statt sich zuzuhören, wird gemeinsam geschwiegen. Man lässt sich gemeinsam oder jeder für sich berieseln mit Bildern und Tönen. Die Technik hat das Mensch-bleiben verschluckt, uns die Geselligkeit geraubt, uns die Träume genommen. Denn von Morgen zu Träumen, bedeutet für unser Fleckchen Erde, von der uns vorgesehenen Zukunft zu Träumen oder wenn wir unsere Blickwinkel über unseren Wirkungskreis hinaus ausdehnen, von Alpträume geplagt zu werden. Wie man steht und sich dreht, überall scheinen Ohnmachtsfallen aufgebaut zu sein, die wir selber erschaffen haben und regelmäßig warten.
Die existierende Technologie ist so flüchtig geworden, die Halbwertszeit so kurz, dass sie in unseren Köpfen bereits unmittelbar nach der Anschaffung als veraltet gilt. Damit kommt uns auch die Beständigkeit abhanden. Wie soll der Mensch nun mit seiner Phantasie eine zeitlose Geschichte verfassen, wenn ihm das Gefühl von Dauer, dass etwas eine lange Weile vorhält, abhanden gekommen ist?
Die Unfähigkeit zur Unmoral, zur Phantasie und zur Geselligkeit, die fehlende Worte die eigene Ohnmacht zu beschreiben und das fehlen von Verantwortung, offenbaren uns weshalb es im 21.Jh. keine Märchen mehr gibt, dass den Feen der Staub ausgegangen ist und ohne das Zeitlose unsere Zukunft abgelaufen ist.
Es wird Zeit das Märchen neu zu erfinden!
Jean Luc Bomel, Oktober 2012